Unsere Sea-Side-Gallery

Am 9.November 1989, es war Donnerstag kurz nach 10 Uhr abends, da wurde unter dem Druck der DDR-Bürger/innen die Berliner Mauer geöffnet. Ich weiß noch, bei den Tagesthemen stand mir der Mund offen vor ungläubigen Staunen. Die Mauer fiel! In den Tagen und Wochen danach hämmerten „Mauerspechte“ mit Fäusteln und „Bellos“ Erinnerungsstücke aus dem Beton. An Zement hatten die drüben jedenfalls nicht gespart und dennoch war die gesamte „Berliner Mauer“, immerhin 106 Kilometer mit 3,60 m Höhe, ziemlich flott fast ganz abgerissen. Da fiel dann doch jemandem auf, dass der „antifaschistische Schutzwall“ zumindest teilweise als Mahnmal erhalten werden müsste. Also ließ man noch einen Rest von 1,3 km Mauer stehen. Diesen Rest bemalten dann 118 Künstler aus 21 Ländern als Symbol für Freiheit und gegen Willkürherrschaft. So entstand die weltweit längste dauerhafte Open-Air-Gallery: die East-Side-Gallery in Berlin-Friedrichshain. Wer nach Berlin reist, muss neben Brandenburger Tor, Gedächtniskirche, Reichstagsgebäude und Alexanderplatz auch die East-Side-Gallery gesehen haben.
Ja und jetzt? Was hat denn unsere Wetterau mit Berlin zu tun? – Also, wir wissen schon, dass es zwischen der Bundeshauptstadt und Wölfersheim „kleine Unterschiede“ gibt. Aber lasst mich zu Spaß trotzdem mal einen Vergleich wagen: „Wenn du nach Wölfersheim kommst, dann musst du den Haag in Melbach, die Saalkirche in Wölfersheim, den Tanzplatz in Berstadt, den Södeler Kirchplatz und die Wohnbacher Erdkeller anschauen. Oder geh doch einfach mal der längsten Wetterauer dauerhaften Open-Air-Gallery entlang: der Wölfersheimer Sea-Side-Gallery. Auf einer Backsteinmauer mit 200 Meter Länge vom Antikcafe  in Richtung See haben 11 Künstler aus 5 Nationen mit Unterstützung der Wölfersheimer Künstlerpalette und der Gemeinde Graffitikunst zum Thema „Respekt und Vielfalt“ geschaffen. Die Mauer ist ein Relikt aus vergangenen Kraftwerkszeiten und grenzte die ehemaligen Arbeiterreihenhäuser vom Kraftwerksgelände ab. Nebenbei bemerkt ist das ein sehr sehenswertes Ensemble früherer Industriekultur, als Arbeitgebern die Lebensqualität ihrer Mitarbeiter mehr bedeutete als heutige Leiharbeitsverträge. In diesem Fall bin ich richtig froh, dass unsere Wölfersheimer Mauer nicht der “hysterischen Beseitigung von Vergangenheit“  zum Opfer fiel und abgerissen wurde, sondern uns älteren Wölfersheimern als Erinnerung an alte Kraftwerkszeiten dient. Den Jüngeren soll die  Kunstmauer lebendiges Hoffnungszeichen zu einem friedlichen Miteinander sein. Geht einmal die Galerie entlang und stellt euch vor, dass ihr im Urlaub seit und der Stadtführer erzählt euch: „This is he most remarkable example of modern craffitii art in the area!“  Und der normale hessische Urrumpel hätt wahrscheinlich gesagt: „Guckt euch des Geschmier an! Wie die Deppe die scheh Mauer versaut ham!“ Die Geschmäcker sind halt verschieden und der Vergleich mit Berlin ist ja auch nur ein kleiner Spaß.
Aber ein kleines Fitzelchen Berlin ist bei uns vielleicht doch spürbar. Ich meine das zumindest in Bezug auf Weltoffenheit, Verständnis für Kultur, Interesse an Kunst und so. Wir sind raus aus der Hinterwäldlerecke. Da braucht man hier wirklich keine rechtsradikalen Faschos mehr, oder?